Es ist offiziell: Die EU-Kommission macht ernst. Am 9. Dezember 2025 hat Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager ein förmliches Kartellverfahren gegen Alphabet (Google) eröffnet. Nach monatelangen Voruntersuchungen zielt Brüssel nun direkt auf das Herzstück der neuen Google-Strategie: die Verknüpfung von klassischer Suche und generativer KI.
Dieses Verfahren ist keine bloße Formalität. Es ist der entscheidende Kampf um die Frage, ob die Spielregeln des "alten" Internets eins zu eins auf das neue KI-Zeitalter übertragen werden dürfen. Wir analysieren die Anklageschrift und was sie für die digitale Ökonomie bedeutet.
Die Anklage aus Brüssel: Worum es im Kern wirklich geht
Der zentrale Vorwurf der Kommission lässt sich mit einem Begriff zusammenfassen: Leveraging. Die Wettbewerbshüter werfen Google vor, seine erdrückende Dominanz in der Websuche und im Video-Hosting zu missbrauchen, um den entstehenden Markt für KI-Anwendungen präventiv zu monopolisieren.
Die Logik der EU: Google versucht nicht durch bessere Innovation zu gewinnen, sondern indem es den Zugang zum wichtigsten Rohstoff der KI-Ära kontrolliert – Daten. Dabei werden zwei spezifische Praktiken ins Visier genommen, die Wettbewerber und Content-Ersteller gleichermaßen unter Druck setzen.
Vorwurf 1: Die "Zwickmühle" für Publisher und Webseitenbetreiber
Der erste und wohl brisanteste Punkt betrifft die "AI Overviews". Google blendet zunehmend KI-generierte Antworten direkt über den Suchergebnissen ein. Diese Antworten basieren auf den Inhalten von Webseiten, Blogs und Nachrichtenseiten.
Die Kommission sieht hier eine unzulässige Koppelung:
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Verlage und Webseitenbetreiber stehen vor einer "Friss oder stirb"-Wahl: Um in der Google-Suche überhaupt noch relevant stattzufinden, müssen sie akzeptieren, dass ihre Inhalte auch für das Training und die Generierung von KI-Antworten genutzt werden.
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Ein Opt-out (Widerspruch) gegen die KI-Nutzung ist faktisch kaum möglich, ohne gleichzeitig massive Einbußen im allgemeinen Such-Ranking zu riskieren.
Das Ergebnis: Google saugt das Wissen des freien Webs ab, um ein Produkt zu bauen, das den Nutzer nicht mehr auf die Ursprungs-Webseite leitet. Ein Geschäftsmodell, das laut EU die Existenzgrundlage vieler Publisher zerstört.
Vorwurf 2: Abschottung des YouTube-Datenschatzes
Der zweite Angriffsstrang zielt auf YouTube. Für das Training moderner, multimodaler KI-Modelle (die Text, Bild und Ton verstehen) sind Videodaten unerlässlich.
Die EU untersucht Hinweise darauf, dass Google hier eine künstliche Barriere errichtet:
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Eigene Modelle (wie Gemini) erhalten uneingeschränkten, exklusiven Zugriff auf den riesigen Datenpool von YouTube.
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Konkurrierende KI-Entwickler (wie OpenAI oder Anthropic) werden technisch oder rechtlich daran gehindert, diese Daten für ihre Modelle zu nutzen.
Damit würde Google seine Plattform-Macht nutzen, um Wettbewerber im Keim zu ersticken, indem ihnen der Zugang zu Trainingsmaterial verwehrt wird.

Drohende Konsequenzen: Von Rekordstrafen bis zur Zerschlagung
Sollte die EU ihre Vorwürfe belegen können, drohen Google drastische Einschnitte. Es geht hierbei nicht um den Digital Markets Act (DMA), sondern um klassisches Kartellrecht.
Der rechtliche Hebel: Missbrauch der Marktmacht (Art. 102 AEUV)
Die Basis der Klage ist Artikel 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Dieser verbietet den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. Die Beweislast liegt bei der Kommission: Sie muss nachweisen, dass Googles Verhalten Innovationen bremst und dem Verbraucher schadet. Das macht das Verfahren komplexer und langwieriger als DMA-Verfahren, aber potenziell wirkmächtiger.
Was Google jetzt blüht: 10 % vom Weltumsatz?
Die finanziellen Risiken sind immens. Bei Kartellrechtsverstößen kann die EU Strafen von bis zu 10 % des weltweiten Jahresumsatzes verhängen. Noch schmerzhafter wären jedoch die sogenannten "Remedies" (Abhilfemaßnahmen):
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Die EU könnte Google zwingen, den Suchindex vom KI-Training zu entkoppeln.
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Google müsste Publishern möglicherweise erlauben, in der Suche zu erscheinen, ohne ihre Daten für KI-Zwecke freigeben zu müssen.
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Eine erzwungene Lizenzierung von YouTube-Daten an Wettbewerber wäre denkbar.
Fazit: Ein Verfahren, das die Spielregeln der KI-Ära definiert
Die Eröffnung dieses Verfahrens ist ein Warnschuss für die gesamte Tech-Branche. Die EU sendet das klare Signal, dass Datenmonopole nicht geduldet werden.
Für Google steht viel auf dem Spiel: Es geht um die Verteidigung des eigenen Ökosystems gegen Regulierung. Für den Rest des Internets geht es um die Chance auf einen fairen Wettbewerb, in dem nicht derjenige gewinnt, der die meisten Daten besitzt, sondern derjenige, der die beste Lösung baut. Der Ausgang dieses Verfahrens wird maßgeblich bestimmen, wie offen das Web in fünf Jahren noch sein wird.